Meine Erinnerungen aus meiner Heimat in Tauerzig
Ingeborg Pinkes geb. Zimmer aus Tauerzig
Ich hatte schon öfter daran gedacht etwas aufzuschreiben. Es ist ja schon fast zu spät, es gibt ja kaum noch Zeitzeugen. Den letzten Anstoß gab mir unser Vorsitzender Herr Habermann vom Heimatkreis Oststernberg.
Vorerst möchte ich ein bisschen ausholen. Ich bin in Berlin-Neukölln geboren. Nach einem halben Jahr hatten sich meine Pflegeeltern, die kinderlos waren, mich ausgewählt und holten mich aus einem Kinderheim nach Tauerzig. Sie wollte mich adoptieren, leider war das zur damaligen Zeit nicht möglich, da meine leibliche Mutter katholisch war. So nahmen meine Pflegeeltern Kontakt zu ihr auf, sie stimmte auch zu. Leider hatte die katholische Kirche einen größeren Einfluss. Daraufhin sollte ich zu meinen Großeltern, da meine Mutter aber auch schon eine Stiefmutter hatte, konnte ich erst mal bleiben. Somit bin ich evangelisch aufgewachsen. Obwohl ich den Namen nicht loswurde, auf meinen Schulheften stand immer Zimmer Lange. Ich habe auch nie gefragt, hab mich auch nicht getraut. Andere Kinder sagten dann auch öfter, das sind ja gar nicht deine Eltern. Für mich waren sie es und sind es auch immer geblieben.
Meine richtige Mutter hat uns des öfteren besucht. Ich erinnere mich schwach, dass ich Tante Martha gesagt habe. Sie hat immer sehr geweint, wenn sie wieder wegfuhr. Ich war dann vier Jahre alt, meine Eltern wollten dann den Kontakt nicht mehr, weil sie dachten, sie nimmt mich eines Tages mit. Das hat mir mein Vater, nach meiner Konfirmation, dann alles einmal erzählt. Ich hatte danach auch kein Problem damit.
Zuerst möchte ich doch noch das kleine Dorf mit 221 Einwohnern vorstellen. Ich finde es erwähnenswert, da es verhältnismäßig viele Handwerker gab. Unser Dorf lag im Tal mit einer teilweisen breiten Dorfaue und zwei Reihen Kastanienbäumen, dazu sechs kleinen Teichen. Damit wurde im Frühjahr das Schmelzwasser aufgefangen. Ich beginne einmal von Sternberg aus, Ortseingang rechte Seite. Oben auf dem Berg stand eine Windmühle mit Bäckerei der Familie Kleinschmidt. Da wurden des öfteren Brot und Brötchen mit einem dreirädrigen Auto ausgefahren. Leider brannte die Mühle vor dem Krieg ab. Weitere Handwerker: Schuhmachermeister Otto Lange mit Landwirtschaft. Der nächste: Tischlermeister Herr Kuhlmei. Wir hatten auch einen Schloss- und Gutsbesitzer, Familie Schwedler. Daneben eine Gaststätte mit Saal und Poststation, Familie Klempke. Dazwischen waren sechs Bauernhöfe. Dann kam der zweite Berg Richtung Zielenzig. Nun zur anderen Seite zurück, erst etwas abgelegen von der Straße lag der Friedhof. Wir hatten auch einen Nachtwächter und Ausrufer, Herrn Ulbricht, einen Schneider, Herr Tschicho, er war ein gebürtiger Russe. Er war nach dem Ersten Weltkrieg dageblieben und mit einer deutschen Frau verheiratet. Er verstarb noch während des Zweiten Weltkriegs. Eine Kolonialwarenhandlung wurde von Familie Mogel betrieben. Im neuen Polizeihaus wohnte Familie Wolf. Neben unserer Schule stand eine wunderschöne Kirche, die erst 1862 erbaut wurde. Dann hatten wir noch einen Schmiedemeister, Erich Wald, mit Landwirtschaft und Tankstelle. Zwischendurch sieben Bauerngehöfte und auch Arbeiterhäuser. Es war ein friedliches Dorf, es gab jedes Jahr ein Schützenfest im Wald mit einer Blaskapelle, Kinderkarussell und kleinen Buden.
1938 bin ich in Tauerzig eingeschult worden. 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Der Lehrer wurde eingezogen. Wir mussten dann nach Malsow zur Schule zu Fuß zwei Kilometer laufen. Im Herbst 1944 kamen schon die ersten Flüchtlingstrecks von Ostpreußen und den anderen Ostgebieten. Wir hatten keine Schule mehr. Es war alles voll belegt mit Flüchtlingen. Im Herbst hatten wir uns auch vorbereitet, der Wagen stand bereit, es war alles gepackt. An ein Weihnachtsfest war nicht mehr zu denken, ohne Befehl durften wir nicht abfahren. So sind wir und das ganze Dorf zurückgeblieben. Die Straßen waren ja auch verstopft, dazu der viele Schnee.
Am 30. Januar 1945 kamen dann die Russen. Morgens um 5 Uhr wurden wir geweckt. Mit einem großen Krach, die Panzer haben kein Tor aufgemacht, die sind gleich durchgefahren. Meine Mutter war schon auf, es musste ja das Vieh versorgt werden. Dann kam sie in das Schlafzimmer, machte das Licht an, hinter ihr ein Russe mit einem Maschinengewehr. Der suchte nach deutschen Soldaten. Ich habe laut geweint. Worauf meine Mutter sagte, weine nicht, das sind Menschen wie wir auch. Sie war eine sehr gläubige Frau.
Dann waren die Häuser besetzt und es folgten Verhöre. Meinem Vater ist nichts passiert. Wir hatten auch zwei Fremdarbeiter, einen Polen und einen Ukrainer. Sie haben im Haus mitgewohnt, wir haben auch an einem Tisch gegessen, was eigentlich verboten war. Soviel ich weiß, war es bei allen Bauern so, außer beim Bürgermeister und dem Ortsbauernführer, aber sie haben es auch gewusst.
Es war doch erstaunlich, dass sechs Familien es geschafft hatten und sehr mutig waren, hinten durch die Gärten nach Zielenzig und mit dem letzten Zug nach Frankfurt/Oder zu kommen. Es sind viele Einwohner erschossen worden, es sollte niemand die Häuser verlassen. Uns Kindern hat man nichts getan. Um 10 Uhr bin ich bis zur Straße raus, habe aber auch niemanden gesehen. Bin dann auch gleich wieder rein und habe zu meinen Eltern gesagt, wir sind nur noch alleine hier. Es geschah in den ersten Tagen für mich etwas ganz Schreckliches. Es fuhr ein Militärauto fast schon durch unser Dorf, da bemerkten die Russen, dass es ein deutsches war. Es wurde gestoppt, es waren sechs junge deutsche Soldaten, die den Befehl hatten über Sternberg nach Frankfurt/Oder zu fahren. Sie nahmen auch noch eine Frau Förster und ihre fünf Kinder mit, ihr Mann hatte sie in Frankfurt erwartet. Der Frau mit den Kindern ist nichts passiert. Aber den Soldaten wurden die Papiere und die Erkennungsmarken abgenommen, die Sachen wurden verbrannt. Wir konnten da nichts an uns nehmen. Am übernächsten Gehöft von uns aus an der Dorfaue hat man alle sechs erschossen. Dort entstand ein Massengrab mit all den toten Bewohnern.
Bei uns im Dorf ging es dann weiter, die Russen bildeten eine Kommandantur. Die Kühe und Pferde kamen in die Schlossstallungen, die Männer und Frauen mussten dort arbeiten. Als nach drei Wochen die Panzer weiterfuhren, kamen Soldaten mit Panjewagen. Das war die schlimmste Zeit. Es gab Verschleppungen und Vergewaltigungen. Mein Vater war schon im Schloss und musste für die Russen neue Stiefel anfertigen. Leder brachten die Russen mit, woher auch immer. Am 27. Februar kam wieder eine Wagenkolonne, und ein einziger junger Soldat kam zu uns rein. Wir bemerkten, dass er angetrunken war. Meine Mutter und ich waren in der Küche beim Mittagessen kochen. Der Soldat nahm mich am Arm mit in das Zimmer. Meine Mutter kam hinterher und machte die Tür auf und sagte, was ist hier los. Ich hatte Angst und lief raus bis zur Straßenmitte. Meine Mutter kam bis zur Treppe hinterher und rief mir zu, geh doch mal zu Fechners, das war unser Nachbar. Herr Fechner möchte doch mal herkommen, er war leider nicht da. Als ich zurückkam, sah ich schon im Schlafzimmer Feuer. Ich bin auf der Straße stehengeblieben und rief meiner Mutter zu, komm wir gehen zu Papa. Sie sagte nur, ich habe doch vor dem keine Angst. Inzwischen muss auch meine Mutter das Feuer bemerkt haben. Sie ging rein, man kann nur vermuten, dass sie mit ihm geschimpft hat, dann kam ein Aufschrei und ein Schuss. Ich lief so schnell ich konnte heulend die Straße runter zu meinem Vater. Unterwegs traf ich noch Frau Kassner, sie fragte, was ist denn passiert? Ich sagte nur, meine Mutter ist erschossen worden. Bei meinem Vater angekommen, lief er gleich zum Kommandanten. Wir gingen alle drei zum Haus zurück. Die Haustür war zu, wir mussten im Hof warten. Der Kommandant kam wieder und sagte, in einer Stunden können wir sie beerdigen. Das taten wir dann auch, bei uns im Garten. Ich schmückte den Hügel mit Tannenzweigen aus dem Schlosspark. Das war das Schlimmste, was ich erlebt habe.
Es war ein sehr junger Soldat, ich wusste gar nicht was der von mir wollte. Ich war auch sehr klein und zierlich, Gott sei Dank. Ich hatte auch sonst nichts von all den schlimmen Sachen mitbekommen. Später hat man dann über Vieles gesprochen. Was alles passiert ist, wie manche Frauen gelitten haben.
Eines Tages musste mein Vater noch etwas auf der Werkstatt holen, da sah er im Garten das geöffnete Grab meiner Mutter. Später, vielleicht so im April, haben wir dann meine Mutter auf den Friedhof umgebettet. Wir bekamen einen Wagen mit einem Pferd und einem Soldaten als Bewachung. Denn die Verschleppung war groß. Auf den Schuhmacher wollte der Kommandant sicher nicht verzichten.
Ende Februar sind dann alle Einwohner in das Schloss gezogen. Vor dem Eingangstor war Tag und Nacht ein Wachposten und alle waren dadurch geschützt. Es ging uns ja eigentlich ganz gut, alle mussten arbeiten, wir waren versorgt. Es gab eine Großküche, wenn das Fleisch alle war, wurde die nächste Kuh geschlachtet, das ließ hoffen.
Wir dachten ja, wir könnten zu Hause bleiben. Im Frühjahr kamen auch noch viele Familien aus dem Warthegau nach Tauerzig dazu. Sie blieben auch noch einige Monate. Dann kam der Mai und sechs Familien kamen zurück, das wussten wir erst, dass der Krieg zu Ende war. Die Familien waren in Rangsdorf bei Berlin untergekommen. Dort bekamen sie keine Lebensmittelkarten mehr und mussten zurück. Wir bezogen unsere Häuser wieder, es dauerte aber nur bis August. Dann wurden Polen angesiedelt und wir zogen wieder im Schloss ein. Im Sommer gingen schon einige Familien mit Pferd und Wagen und einem Teil der Kühe mit russischen Soldaten in Richtung Frankfurt/Oder. Das gleiche im Herbst noch mal, wir wussten aber nicht, wohin es ging. Vorher wurde aber alles noch abgeerntet. Der Russe hat den Polen nichts gelassen. Da hab ich mich mit 13 Jahren gefragt, wie sollen die Menschen den Winter überleben?
Wir waren dann im Winter die letzten mit Pferd und Wagen und kamen dann einen Tag vor Heiligabend in Möckern bei Magdeburg an. Hier trafen wir dann auch die anderen Einwohner von Tauerzig wieder. Ich bin dann noch drei Monate zur Schule gegangen und wurde dann konfirmiert.
Ich hätte mir nur gewünscht, mein späteres Leben wäre in anderen Bahnen verlaufen. Aber das ist eine andere Geschichte. So bin ich heute noch mit 80 Jahren in Möckern verblieben.
Ingeborg Pinkes geb. Zimmer aus Tauerzig
Burger Str. 14, 39291 Möckern
Abbildungen: Postkarte, Einwohnerplan Tauerzig:
Heimatkreis Oststernberg